Blog









PROLOG












Ich kann mich nicht bewegen. Der alte und viel zu kleine, flackernde Röhrenfernseher zeigt unentwegt ein wechselndes, aber auf Dauer gleichbleibendes Programm. Bedauerlicherweise gibt es aber keine Möglichkeit, mich diesem zu entziehen. Gefesselt am Stuhl und durch eine durchtriebene Konstruktion fixiert, kann ich weder meinen Kopf bewegen, noch die Augen schließen.


Wie lange mag ich mich schon in diesem Zustand befinden? Schwer zu sagen, da der Übergang vom Normalzustand unmerklich stattfand. Ähnlich wie in einer weit bekannten Traumsystematik, dem Lähmungstraum, in welchem man vor etwas weglaufen will, es aber nicht kann. Erst in der Situation der Flucht wird man sich darüber bewusst, dass man unfähig zur Fortbewegung ist, jedoch kann man sich nicht daran erinnern, wie sich dieses Gefühl entwickelte. Vom Rest des Raumes ist aufgrund meiner Unbeweglichkeit nicht allzu viel wahrnehmbar. Der Akustik nach zu schließen ist er klein, außerdem ist es hier kalt und dunkel.


Die TV-Programme sind grauenhaft, aber noch schlimmer als der Inhalt ist etwas Anderes: Scheinbar willkürlich wird zwischen den Sendern hin- und her gezappt, meist innerhalb weniger Minuten. Gerade wenn ich mich halbwegs auf eine Sendung eingestellt habe, erscheint eine andere, ohne Zusammenhang mit der vorhergehenden. Die Genres sind jedoch abwechslungsreich: Von einer gesellschaftskritischen Dokumentation über Müllverschmutzung in Großstädten geht es über zu einem Film, in welchem die Protagonist:innen jegliche Klischees gängiger Lebensziele erfüllen. Die erste gemeinsame Wohnung, Familiengründung mit Anfang 30, berufliche Weiterentwicklung, Umzug raus aus der Stadt, Kredit zur Finanzierung eines Reihenhauses. Obwohl die Thematik mich sonst kalt lässt, scheint sie mich nun auf eine krude Art zu fesseln und ich bemerke, wie ich mich zunehmend, bei Wiederauftauchen des Filmes, mit diesen Menschen vergleiche. Das Fokussieren auf ein Programm fällt mir unglaublich schwer, was auch an meiner körperlichen Verfassung liegen könnte. Ich habe dieses oft beschriebene Gefühl, in einer Glocke zu sein, wie bei einer Grippe. Dazu kommen Gliederschmerzen, Magenkrämpfe und mein Gesicht fühlt sich an wie versteinert.


Wie lange ich in diesem grässlichen Raum, in dieser unbegreiflichen Situation, verharre, weiß ich am Ende nicht mehr. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Plötzlich geht die Tür direkt hinter dem Fernseher auf, ein Lichtschalter wird betätigt und mein eigener Doppelgänger tritt ein. So gruselig diese Vorstellung sich anhören mag, für mich fühlt es sich sofort richtig und wie das Normalste der Welt an. Mein Alter Ego strahlt eine spürbare Wärme aus und wirkt für mich wie der liebevollste und sympathischste Mensch, den ich je gesehen habe. Er lächelt mich an und kommt direkt auf mich zu. Dann schaltet er den Fernseher aus, löst er meine Fixierung auf und umarmt mich lange. Die Wärme und Kraft, die sich nun von seinem Körper auf meinen überträgt, ist unbeschreiblich. Dann zwinkert er mir zu und sagt: „Komm mit, du warst jetzt lange genug hier. Zeit mal wieder ins Freie zu gehen!“. Eine Welle der Zuversicht erfüllt mich und langsam folge ich ihm aus der Türe hinaus in das gleißende Licht.














2021

1




















Und ehe ich mich versehe, ist sie wieder da: Die lang herbeigesehnte Euphorie. Mein Körper fühlt sich angenehm warm an, positive Gedanken strömen nur so aus mir heraus. Wo kommt das so plötzlich her? Innerhalb von Stunden von zutiefst betrübt zu „alles läuft“. Ist das nun Rapid Cycling? Ein beunruhigender Gedanke, aber ich werde mich damit befassen müssen. Es ist zwar unglaublich schön, endlich wieder solche Glücksgefühle zu spüren, aber es ist beängstigend, wie schnell sich meine Stimmungslage ändern kann.


Heute Morgen noch war der wahrscheinlich schlimmste Tagesbeginn seit Ewigkeiten. Kurzer, flacher REM-Schlaf mit dennoch wunderschönen Träumen – typisch bei mir in depressiven Episoden. Fast stündliches Erwachen mit kurzem Glücksmoment, weil die Nacht noch weitergeht. Um 5 Uhr bahnt sich ein „Morgengrauen“ an, aber nein, du kannst dich noch einmal umdrehen! 5:40 Uhr, gleich fängt der Alptraum an. 6:20 Uhr, FUCK, du hast noch 25 Minuten, das lohnt sich nicht mehr, steh jetzt auf! Ne, der Wecker muss auf 7:10 Uhr gestellt werden, Scheiß drauf. 20 Minuten ein furchtbares hin- und her wälzen, dann stehe ich endlich auf. Mechanisch ziehe ich den Vorhang auf, öffne die Balkontüre zum Lüften und der Lärm der Straßenreinigung begrüßt mich. Magenkrämpfe deuten sich an. Ich sehe eine Notiz an mich selbst vom Abend zuvor: „Biomüll“. Ne, forget it. Mein einziger positiver Ausblick bis dahin ist die erste Zigarette des Tages. Aber vorher schlinge ich noch eine Schale Müsli in mich hinein, putze mir danach die Zähne und wasche mir das Gesicht, während ich mich selbstmitleidig im Spiegel beobachte.


Die Kippe fühlt sich ungesund an, wie fast alle in den letzten Tagen. Kein Genuss mehr, aber verschafft Beruhigung. Am Hermannplatz laufe ich an Junkies vorbei in die U-Bahn, unter dem Mund-Nasen-Schutz ekelhafter Zigarettengeruch. In meinem Kopf hat schon längst mein innerer Kampf der letzten Tage wieder begonnen: „Du kannst diesen Job nicht weitermachen, du musst dich krankmelden, gefeuert werden oder selbst kündigen!“. „Nein, unmöglich! Du hattest so viel Glück, diesen Job erst bekommen zu haben, außerdem war doch noch vor ein paar Tagen alles super!“ Was ist geschehen?


Ich weiß es nicht. Ich bin umgezogen, in eine 1-Zimmer Bude im Zentrum Neuköllns. Vor ein paar Wochen war ich noch so euphorisch deswegen, jetzt zieht mich die Tristesse und die kalte, egoistische Anonymität der Großstadt erneut herunter. „Wie will ich mir die Wohnung aber denn leisten?! Wieder Hartz4? Dazu muss ich aber gekündigt werden. Außerdem falle ich danach wahrscheinlich in ein noch viel tieferes Loch. Und der ganze Bewerbungswahnsinn geht wieder los. Also eindeutig – ich muss weiterarbeiten, ich muss da durch. Hab ja wohl schon Schlimmeres überstanden!“ In meinen Ohren läuft klassische, traurige Musik – etwas Anderes ertrage ich schon seit Tagen nicht mehr. Vor einer guten Woche noch lief zur gleichen Zeit Gigi D’Agostino, 50Cent und Madonna. Wie geht das? Die Gedanken an vergangene gute Tage schiebe ich erstmal wieder beiseite, bringt jetzt auch nichts.


Ich komme nach zweimal Umsteigen und 50 Minuten Fahrt in Französisch Buchholz an. Wer hätte gedacht, dass ich einmal im Herzen Berlins wohnen, aber im dörflichen Rand arbeiten würde. Die zweite Kippe bringt etwas Zuversicht. „Ich muss jetzt einfach alles geben, ranklotzen, damit lenke ich mich ab!“. Das funktioniert 3 Stunden mit 3 weiteren Zigaretten und zwei Tassen Kaffee ganz gut. Dann soll ich aus einer Wunschliste von ca. 30 Vorschlägen zu neuen Webseiten-Features die jeweilige Komplexität und den Impact herausarbeiten und dann 5 Features für das nächste Release bestimmen. Parallel schreibe ich mit 5 Leuten, warum statt 50.000 Bilder pro Tag nicht 500.000 in unsere Datenbank eingespielt werden. Bald schau ich nur noch apathisch zwischen den zwei Bildschirmen hin und her, die Online-Symbole der Mitarbeiter:innen im Firmenchat scheinen mich alle anzustarren und zu verurteilen.


Nach einigen Telefonaten, verzweifelten Google-Suchen und weiteren Zigaretten finde ich endlich den Mut, meinem Chef per Telefon offen und ehrlich meine Situation zu schildern. Unglaublich, wie positiv er reagiert. Natürlich will er nachforschen, er ahnt bestimmt schon, was los sein könnte. Er fragt mich, ob ich dann Anfang Januar wiederkommen würde und ich sage, ich hoffe schon, genaueres lasse ich ihn nur vermuten. Dann klären wir noch ein paar Arbeitsthemen, die ich ihm übergeben soll. Anschließend flüchte ich schnell und heimlich aus dem Büro und hoffe, dass mich niemand mehr sieht. 5 Minuten später ruft mich mein Chef noch einmal an und sagt mir, was für einen Mehrwert ich der Firma bereits geliefert hätte, dass ich mir um den Job erstmal keine Sorgen machen müsste, das würde schon bald alles wieder passen, sie würden das schon „wuppen“. Bin echt überwältigt und fassungslos, das von einem 24-jährigen zu hören. Nach dem Gespräch erfüllt mich eine große Erleichterung und ein Gefühl, das Richtige getan zu haben.

Zwei Stunden später geht es mir aber leider fast wieder wie zuvor. Mein Psychiater hat mich bis zum 14.01. anstatt bis zum 04.01., wie eigentlich gedacht, krankgeschrieben und bestand darauf. Fuck, Ängste und ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Chef kommen hoch. Bevor ich wieder ganz in trüben Gedanken versinken kann, führe ich aber noch zwei Telefonate, die mir sehr gut tun. Danach habe ich plötzlich eine Eingebung, dass mir Meditation helfen könnte und lese anschließend. Langsam, ganz heimlich merke ich, wie die Euphorie in mir hochsteigt. Ich laufe durch die Wohnung und Dinge, die gestern noch Probleme dargestellt haben sehe ich nun als willkommene kleine Aufgaben an! Ich denke an die Arbeit und glaube plötzlich fest daran, dass ich das doch alles gut hinbekommen kann und der Job genau richtig für mich ist. Dann denke ich ans Joggen, gesunde Ernährung, Rauchstopp. Ist das schon die Wirkung des Antidepressivums, das ich seit Dienstag nehme? Nein, unmöglich in der Zeit. Dann hat der Faktor Arbeit einfach einen unglaublich großen Einfluss auf meine Phasenswitches. Vorm Schlafengehen nehme ich mir vor, auf jeden Fall die nächste Zeit dafür zu nutzen, die Trigger besser zu analysieren. Jetzt kann ich das Hochgefühl erstmal unglaublich dankbar annehmen, auch das Risiko einer möglichen Hypomanie nehme ich tausendmal lieber an, als noch so eine schlimme Woche.